Die bisher gemachten Erfahrungen sprechen für sich

Mulingula wurde in der Stadt Münster erstmalig 2008 in der Melanchthon-Grundschule als Pilotprojekt angelegt. Die positiven Erfahrungen und Resonanzen aller beteiligten Personen wie Kinder, Eltern, KollegInnen und VorleserInnen überzeugten auch auf administrativer Ebene und so wurde Mulingula bis heute in 12 weiteren Schulen und einer Kita in der Stadt Münster erfolgreich eingeführt. Die ausgewählten Schulen weisen einen hohen Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte auf. Die Sprachgruppen variieren von Schule zu Schule je nach Sprachzugehörigkeiten der Kinder; vorrangig sind Russisch, Türkisch, Arabisch, Tamilisch, Farsi, Kurdisch, Serbisch und Romanes vertreten. In diesen Sprachen finden Vorleseangebote statt. Für eine Teilnahme an den Mulingula-Stunden sollten Sprachkenntnisse in der Muttersprache soweit vorhanden sein, dass die Kinder den Vorlesetexten inhaltlich folgen und sich an einer Anschlusskommunikation beteiligen können. Dazu müssen nicht alle semantischen und syntaktischen Zusammenhänge korrekt beherrscht werden. Wichtig ist die emotionale Bindung an die Muttersprache und die Vertrautheit, die sie erzeugt. Leseentwicklung und Lesekompetenz sind weit mehr von emotional-affektiven Vorgängen gesteuert als bisher angenommen.

Um den Sprachstand der Kinder zu ermitteln, werden sie in Kleingruppen von den Vorlesekräften über das Erzählbuch „Frag mich“ von Antje Damm (2002) zum Sprechen angeregt. Solche Erstbegegnungen der Kinder mit der Muttersprache in einer bisher als rein deutschsprachig erlebten Umgebung bringen auch für die Beobachterin/ den Beobachter immer wieder beeindruckende Schlüsselerlebnisse mit sich. Die Kinder reagieren in dem Erstkontakt mit ihrem zukünftigen Vorleser auffallend positiv überrascht. Die Erfahrung, der überwiegend im familiären Bereich gehörten und gesprochenen Sprache in der Institution Schule authentisch zu begegnen, löst häufig intensive emotionale Reaktionen aus, wie z. B. „Wieso kannst du unsere Sprache?“, „Bist du eine/einer von uns?“, „Wohnst du hier?“, „Kennst du meine Eltern?“

Die Sprachgruppe Romanes (auch Romani) stellt innerhalb des Projektes eine Besonderheit dar und erforderte auch ein konzeptionelles Umdenken in der lesedidaktischen Aufbereitung der Mulingula-Stunden.

Romanes, die Sprache der Roma und Sinti, ist besonders bei den geflüchteten Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien (z. B. Kosovo) eine lebendige Familiensprache. Als überwiegend mündlich tradierte, aber auch sozial stigmatisierte Sprache finden sich erst seit jüngerer Zeit literarische Umsetzungen. Der Zugriff auf verfügbare Kinderliteratur ist daher im Vergleich zu allen anderen Sprachen eingeschränkt. In den Vorlesestunden kommt daher auch deutsche Literatur zum Einsatz. Zentrale Schlüsselbegriffe und Redewendungen werden jedoch vorher isoliert und in die Sprache Romanes übersetzt. Texteinführende Erläuterungen sowie alle Gespräche über den Text, Antizipationen, verständnisklärende Auseinandersetzungen und Anschlusskommunikationen werden ebenfalls auf Romanes geführt. Auch Textumsetzungen, wie z. B. das szenische Spiel, finden in der Muttersprache statt. Den Kindern fällt das Switchen zwischen den Sprachen leicht. Sie sind es gewohnt, von einer Sprache in die andere zu wechseln. Neu für sie ist, dass sie dies auch außerhalb ihrer häuslichen Umgebung auf ausdrücklichen Wunsch in der Institution Schule tun. Sie erleben einen Angehörigen ihrer eigenen Kultur in der lehrenden Funktion. Die Aufwertung der Sprache und der Kultur stärken das Selbstwertgefühl und die Lernbereitschaft aller Kinder ungemein. Mulingula-Feste bestätigen diese positive Resonanz auch bei den Eltern. Sie kommen zahlreich in Begleitung von Großeltern und Geschwisterkindern in die Schule und verfolgen mit Begeisterung die kleinen Darbietungen ihrer Kinder in den jeweiligen Familiensprachen.

Mulingula ist eine sinnvolle Ergänzung zu allen gängigen Sprachfördermaßnahmen. Im Zentrum steht das Kind mit seinen individuellen sprachlichen Ressourcen. Diese werden als Chance des Lernens begriffen und genutzt, um an Literatur – und Bildungssprache heranzuführen.


Literatur:

Bertschi-Kaufmann, Andrea: Das Lesen anregen, fördern, begleiten. Velber 2006
Damm, Antje: Frag mich! Frankfurt/M. 2002
Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula/ Roth, Hans-Joachim: Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten für die BLK, (107). Bonn 2003
Kruse, Norbert: Mehrsprachigkeit. Das Repertoire von Sprachen und Schriften nutzen und ausbauen. Grundschulunterricht Deutsch 1/2017, S. 4-7
Schader, Basil: Sprachenvielfalt als Chance. Zürich 2004
Strozyk, Krystyna: Mehrsprachigkeit und Sprachförderung. Literarisches Lernen – Aufgaben und Arbeitsmöglichkeiten. Grundschulunterricht Deutsch 1/2017, S. 37-45
Strozyk, Krystyna: Projekt Mulingula. Mehrsprachiges Vorlesen in der Grundschule. Grundschulunterricht Deutsch 1/2017, S. 21-25