Pädagogisches Rahmenkonzept und Umsetzung des Schulprojektes Mulingula

Mulingula steht für multilinguale Leseaktivitäten. Der Name betont die drei zentralen Bausteine des Projektes: Multilingualität, Lesen und Aktivität. Es handelt sich um ein mehrsprachiges Vorleseprojekt, das 2008 erstmalig in der Melanchthonschule im Stadtteil Coerde der Stadt Münster startete. Das Projekt wurde von Krystyna Strozyk und Antje Sinemus, Fachleiterinnen für das Fach Deutsch am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) sowie Leiterinnnen der Kontaktstelle für Interkulturelles Lernen und Menschenrechtserziehung (KIM), entwickelt und ins Leben gerufen. Die Melanchthonschule war und ist durch den hohen Anteil von Kindern mit internationaler Familiengeschichte für das Projekt prädestiniert. Inzwischen ist Mulingula an 13 Grundschulen in Münster und im Nachbarort Greven erfolgreich etabliert.

Das Projekt erreicht ca. 630 Kinder pro Woche. Die Sprachgruppen variieren von Schule zu Schule je nach Sprachzugehörigkeiten der Kinder. Vorgelesen wird derzeit von einem zehnköpfigen Team in insgesamt acht Sprachen: Albanisch, Arabisch, Farsi, Kurdisch, Romanes, Russisch, Serbisch, Tamilisch. Mulingula richtet den schulischen Blick auf die Chancen und auf das Potenzial von Mehrsprachigkeit und führt weg vom monolingualen Habitus von Schule (Gogolin, 1994). Mulingula gibt den Sprachen der Kinder am Lernort Schule einen sicheren und bedeutsamen Platz, indem die Herkunftssprache einmal in der Woche in einem verlässlichen Rhythmus während des Vormittags in Gleichstellung mit den Lernfächern aufgegriffen wird.

Mulingula ist ein praktisch erprobtes Konzept zur Umsetzung zentraler Aspekte einer zeitgemäßen Mehrsprachigkeitsdidaktik. Die Kinder erfahren bei Mulingula über die Einbindung der Muttersprache in unterrichtliche Kontexte einerseits eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer sprachlichen Fähigkeiten und andererseits eine umfassende literarische Förderung, die auch das Tor zur Bildungssprache öffnet. „Die Rezeption von Kinderbüchern in der Muttersprache stärkt die emotionale Anbindung an das Buch und schafft nachhaltige Leseeindrücke“ (Strozyk, 2016, S. 140). Die Lernerfahrungen, die sich in den Feldern der Lesemotivation, der Textkompetenz und des Sprachbewusstseins eröffnen, werden über die Mulingula-Leseaktivitäten gezielt angelegt. Eine Erweiterung des Sprechwortschatzes in der Erstsprache erweitert gleichzeitig auch den Wortschatz in der Zielsprache Deutsch. Werden beispielsweise über ein Sachbuch neue Wörter rund um das Thema „Haustiere“ in der Erstsprache erworben, suchen Kinder zwangsläufig nach dem deutschsprachigen Äquivalent. So kann im Hinblick auf alle Lernerfahrungen in der Muttersprache von einer Transferwirkung auf den deutschen Spracherwerb ausgegangen werden.

Zusammengefasst bewirkt Mulingula eine Stärkung der sprachlichen und kulturellen Identität, der Sprachsicherheit in der Erstsprache, der Lesemotivation, der Textkompetenz, einen Zugang zur Bildungssprache sowie eine Erweiterung des Welt- und Sachwissens.

Die Ziele des Vorleseprojektes Mulingula

Mulingula ist aus Schulentwicklungsperspektive Teil eines schulischen Sprachbildungskonzeptes und ein lebendiger Bestandteil interkultureller Schulkultur. Die vorhandene Mehrsprachigkeit in der Schule findet eine Form der Anerkennung, die sichtbar wird für alle Beteiligten. Über gemeinsame mehrsprachige Leseaktivitäten (s. Kapitel 3.4 „Gemeinsame mehrsprachige Leseaktivitäten für alle Kinder im Klassenverband“) erfahren auch die deutschsprachigen Kinder eine lebendige Begegnung mit anderen Sprachen. Sie erleben ihre Mitschüler*innen als Sprachkenner*innen und stellen für sich selbst gewinnbringende Sprachvergleiche an. Darüber wird der eigene Sprachgebrauch zum Lerngegenstand. Über einen Vergleich mit syntaktischen und grammatischen Strukturen anderer Sprachen lassen sich besondere Merkmale der eigenen Sprache erfassen, wie z. B. die Artikelbildung im Deutschen. Dadurch erhöht sich die Sprachaufmerksamkeit und das Sprachbewusstsein der Schüler*innen.

Die Mulingula-Aktivitäten am Lernort Schule

Das unten abgebildete Haus bildet die Mulingula-Aktivitäten am Lernort Schule ab. Die Grundlage ist eine zeitgemäße Didaktik der Mehrsprachigkeit und des interkulturellen Lernens. Auf dieser Basis wird die sprachliche und kulturelle Heterogenität der Schülerschaft als Potenzial und Chance für bildende und erzieherische Prozesse angesehen.

Die Mulingula-Aktivitäten im Überblick

Dies setzt einen pädagogischen Konsens unter Schulleitung und Kollegium voraus. Eine persönliche pädagogische Haltung, die eine Vermittlung demokratischer und menschenrechtsorientierter Werte fokussiert, ist für eine erfolgreiche Implementierung von Mulingula unabdingbar. Eine Willkommenskultur und Pädagogik der Wertschätzung gegenüber allen Kindern mit ihren vielfältigen Besonderheiten ist selbstverständlich und bildet sich im schulischen Alltag ab. Sowohl die Schulleitung als auch das Kollegium müssen vom lese- und bildungsdidaktischen Mehrwert des Vorlesens in der Muttersprache überzeugt sein. Dies ist auch eine Voraussetzung für die Bereitschaft, sich auf einen veränderten Stundenplan einzulassen.

© Krystyna Strozyk