Die Vorlesestunde in der Muttersprache

Im Zentrum des Projektes steht die wöchentliche Vorlesestunde in der Muttersprache der Kinder. In dieser Vorlesestunde liest eine Vorlesekraft Kindern in sprachhomogen zusammengefassten Gruppen während des Schulvormittags im Umfang einer Schulstunde in der Familiensprache vor. Die Gruppengröße sollte mindestens fünf bis maximal zehn Kinder umfassen.

Ziele

* Aufbau von Leseinteressen und Lesemotivation
* Zugang zu bildungssprachlichen Strukturen in der Muttersprache
* Erweiterung literarischer Kompetenzen
* Erweiterung des Textwissens, des Wortschatzes, des Welt- und Sachwissens
* Aufwertung der Muttersprache durch die Integration der Vorlesestunden in den Stundenplan

Im Vordergrund steht das genießende, selbstvergessene Zuhören. Primäre Aufgabe der Vorlesestunde ist es, das Interesse der Kinder an Büchern zu wecken und Lesemotivation aufzubauen. Die ausgewählten Kinderbücher sollten bevorzugt aus dem sprachkulturellen Raum der Herkunftsländer der Kinder stammen und für die Sprachregion typisch sein. Die Rezeption von Kinderbüchern über die Muttersprache stärkt die emotionale Anbindung an das Buch und schafft nachhaltige Leseeindrücke. Mulingula motiviert einerseits zum Lesen und führt andererseits an bildungssprachliche Textstrukturen in der Muttersprache heran. Die Kinder erwerben über den gewohnten alltagssprachlichen Gebrauch hinaus wichtige Zugänge zur Bildungssprache in der Muttersprache.

Darüber hinaus erweitern sie ihre literarischen Kompetenzen und ihr sprachenübergreifendes Textverstehen, ihr Textstrukturwissen, ihren Wortschatz sowie ihr Welt-und Sachwissen. In den Mulingula-Stunden werden den Kindern neue alltagsüberschreitende Themenwelten eröffnet. Von diesen grundlegenden Lernerfahrungen im Lernbereich Umgang mit Texten profitieren die Kinder auch im Deutschunterricht und in anderen Unterrichtsfächern. Über die Verankerung der Mulingula-Stunden im Stundenplan erleben die Kinder eine deutliche Aufwertung ihrer Sprache. Sie steht gleichwertig neben den anderen Schulfächern.

Konsequenz

Sobald sich in einer Mulingula-Schule mehrere Kinder (ca. 5–7) einer Sprachgruppe zusammenfassen lassen, kann die Gründung einer neuen Sprachgruppe geplant werden. Die Realisierung hängt zum einen von den jährlichen Etatmitteln, zum anderen von der Akquise einer geeigneten Vorlesekraft, ggf. auch von den räumlichen Bedingungen ab. Die Vorlesestunden sind zeitlich so organisiert, dass sie möglichst parallel zueinander stattfinden. Darüber lässt sich gewährleisten, dass die Kinder verschiedener Sprachgruppen den Kernunterricht möglichst nur für eine Stunde verlassen.

In der Regel werden altershomogene Sprachgruppen gebildet, d. h. Kinder des 1. und 2. Jahrgangs sowie des 3. und 4. Jahrgangs werden jeweils klassenübergreifend zusammengefasst. In Münster haben sich Russisch, Arabisch, Romanes, Albanisch, Tamilisch, Farsi, Serbisch und Kurdisch als die dominant vertretenen Sprachen herausgestellt. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich nicht für jedes Kind mit anderer Erstsprache eine Mulingula-Stunde einrichten lässt. Gerade darum ist es so wichtig, dass auch diese Kinder bei allen klassenbezogenen mehrsprachigen Leseevents, wie z. B. den Vorleseworkshops, mit ihrem Sprachwissen einbezogen werden (vgl. Kapitel 3.5 „Der zweisprachige Vorleseworkshop“). Zudem sollten sie Bücher in ihrer Sprache auch in den schulischen Bibliotheken vorfinden (vgl. Kapitel 3.7 „Der Aufbau mehrsprachiger Kinderbibliotheken mit aktiver Ausleihe“).

In den letzten Jahren variieren die Sprachgruppen. Zur Gründungszeit von Mulingula gab es noch zahlreiche türkischsprachige Gruppen, die sich immer weiter auflösten, da die Kinder der dritten und vierten Generation zu Hause vorrangig Deutsch als Erstsprache sprechen. Die Anzahl arabisch- und kurdischsprachiger Kinder dagegen stieg im Zuge der Fluchtbewegungen der letzten Jahre rapide an.

© Krystyna Strozyk