Lesesozialisationsbildende Hintergründe

Gute Lesevorbilder schaffen eine erfolgreiche Lesesozialisation

Darüber hinaus haben die Sprachen der Zuwanderer häufig ein eher geringes soziales Prestige. Kinder spüren die soziale Wertigkeit ihrer Sprache und gehen in Distanz zur eigenen Muttersprache oder später im Laufe ihrer Entwicklung eventuell zur Sprache der Mehrheitsgesellschaft.
Migrantenkinder schneiden besonders bei den Leseleistungen sehr schlecht ab. Aus der Leseforschung weiß man, wie wichtig gute Lesevorbilder in der Familie für eine erfolgreiche Lesesozialisation sind. Kita und Schule knüpfen an die Leseerfahrungen an, die die Kinder mitbringen. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Kinder mit Migrationsgeschichte nur unzureichende vorschulische Erfahrungen mit Schriftkultur gesammelt hat. Die materiellen Umstände und die Migrationsbedingungen scheinen hierfür ursächlich zu sein. Es „scheint unter Migrationsbedingungen schlechter zu gelingen, „kulturelles Kapital“ zwischen den Generationen weiterzugeben“ (Gogolin / Neumann / Roth), (vgl. Speck-Hamndan, A., 2005).
Nicht zu unterschätzen ist eine mögliche Unsicherheit der Eltern bei der Weitergabe kultureller Traditionen und dem gleichzeitigen Wunsch, die eigenen Kinder in die neue Gesellschaft zu integrieren.
Die so genannten „Literacy“-Erfahrungen (literale Kenntnisse) sind jedoch maßgeblich an der Ausbildung von Basiskompetenzen für den Umgang mit Texten beteiligt.
Es zeigt sich in jeder Vorlesestunde und in den Vorleseecken: Die allermeisten Kinder schätzen es, wenn sie in Geschichten eintauchen können und dabei ‚nur’ zuzuhören brauchen. Literarische Bildung nimmt ihren Anfang in der Begegnung mit Kinderliteratur. Vor allem das *Vor*lesen von Kinderbüchern erleichtert Kindern, mit Büchern vertraut und zum Selberlesen motiviert zu werden. Kinderliteratur hält ein großes und attraktives Angebot kunstvoller Texte bereit; sie erzählen meist in einer Sprache, die sich vom alltäglichen Sprachgebrauch unterscheidet. Solche neuen Spracherfahrungen werden von den Kindern in ihrer Rolle als Rezipient – sei es als Zuhörer oder Leser – zunehmend als lustvoll erlebt. (vgl. Bertschi-Kaufmann, 2006).
Kinder begegnen z. B. über Bilderbücher ihren ersten wichtigen literarischen Texten. Die literarische Sprache erweitert ihre bildungssprachlichen Kenntnisse um die ästhetische Dimension, die Sprache einnehmen kann (vgl. Scherer/Vach 2019, S. 17). Literarische Kompetenzen, auf die dann im Sinne eines kumulativen Lernens aufgebaut werden kann, lassen sich gerade bei Grundschulkindern über Vorlesesituationen implizit anlegen. Dazu gehören sowohl die Imaginationskraft und die Fantasietätigkeit als auch die Verinnerlichung narrativer Muster. Aufforderungsstarke und bedeutsame Bücher ermöglichen über Imagination und Fantasie ein selbstvergessenes Ein- und Abtauchen in das Buch. Eine Identifikation mit dem Protagonisten und ein damit verbundener Perspektivwechsel, beides gehört ebenfalls in die Rubrik der literarischen Kompetenzen, sensibilisiert für neue Sichtweisen.

Kinder aus bildungsferneren Familien sind vor allem dann benachteiligt, wenn vorschulische Betreuungsinstitutionen und Schule diese fehlenden Leseerfahrungen nicht kompensieren können. Kinder, die mit einer anderen Muttersprache aufwachsen, erleben, unabhängig von dem Bildungsniveau und der Buchnähe im Elternhaus, einen Bruch in der Leseentwicklung, denn sie werden nun mit Büchern in einer Sprache konfrontiert, mit der sie sich noch nicht identifizieren und die noch erlernt werden muss. Die Gefahr, dass diese Kinder auch bei einer guten Zweitsprachentwicklung nie einen Zugang zu Büchern und Texten erfahren, ist besonders hoch.
Über Mulingula sollen Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer schulischen Sprach- und Leseentwicklung gezielt gefördert werden. Ebenso werden Defizite im Bereich der Leseerfahrungen kompensiert. Der bewährte pädagogische Leitgedanke, dass Schule und Unterricht vom Kinde ausgehen muss, ist hier richtungweisend.
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Literatur:
Bertschi-Kaufmann, A.: Das Lesen anregen, fördern, begleiten. Velber 2006
Bönsch, M.: Das ist immer noch ein Problem! In: Niedersächsisches Ministerium f. Frauen, Arbeit und Soziales (Hg.): Betrifft Mehrheiten Minderheiten. Hannover 2/1999
Scherer, G., Vach, K. : Interkulturelles Lernen mit Kinderliteratur. Unterrichtsvorschläge und Praxisbeispiele. Seelze. Kallmeyer in Verbindung mit Klett. 2019
Speck-Hamdan, A.: In: Arbeitskreis Grundschule: Bartnitzky, H. / Speck-Hamdan, A. (Hg.): Deutsch als Zweitsprache lernen. Frankfurt / M.2005