Sprachwissenschaftliche Hintergründe
Die Erstsprache ist die erste Denksprache, in der grundlegende sprachliche Fähigkeiten bei Kindern ausgebildet werden
Die Pisa- und die Iglustudien haben die Leistungen der Schüler in Deutschland mehrfach im internationalen Vergleich untersucht. Seit dem Pisa-Schock in 2001 wurden die insgesamt eklatant schlechten Ergebnisse im Bereich des Lesens deutlich verbessert. Doch haben beide Studien wiederholt gezeigt, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund eine stärkere Benachteiligung in unserem Bildungssystem erfahren.
Dies hat vor allem mit den sprachlichen Fähigkeiten der Kinder zu tun. Als Ursache wird häufig angeführt, dass in den Familien zu wenig deutsch gesprochen wird. Dies ist nur bedingt richtig, denn der internationale Vergleich hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass es anderen Ländern unter den gleichen Bedingungen gelingt, für bessere schulische Leistungen dieser Kinder zu sorgen. Würden Eltern mit unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen mit ihren Kindern Deutsch sprechen, hätten diese Kinder ein schlechtes Sprachvorbild und könnten weder die Muttersprache noch die deutsche Sprache richtig erlernen.
Die Erkenntnisse der Sprachforschung zeigen, wie hoch der Stellenwert der Muttersprache bei der gesamten Bildungsentwicklung eines Kindes einzuschätzen ist. Die Muttersprache hat wichtige Funktionen hinsichtlich der Sozialisation und der allgemeinen Sprachentwicklung. Die Erstsprache ist gleichzeitig die erste Denksprache, in der grundlegende sprachliche Fähigkeiten ausgebildet werden. Bei dem Erwerb einer ersten Sprache eignen sich Kinder ein Sprachbewusstsein z. B. im Hinblick auf Lautung, Grammatik, Struktur und Bedeutung an. Diese Kenntnisse können sie dann auf eine zweite Sprache übertragen.
Innerhalb der Zweitspracherwerbsforschung hat man einen Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit einer Förderung beider Sprachen getroffen. So verläuft die zweisprachige Erziehung nebeneinander und nicht zugunsten oder zuungunsten einer Sprache. Nicht deutschsprachigen oder nur unzureichend deutsch sprechenden Eltern ist daher dringend zu empfehlen, mit den Kindern in ihrer Muttersprache zu kommunizieren. Dies geht nicht zu Lasten des deutschen Spracherwerbs; relevant ist allein das korrekte Sprachvorbild in einer Sprache, vor allem in der Muttersprache. Dementsprechend muss für diese Kinder ein intensiver Kontakt zur deutschen Sprachumgebung hergestellt werden, um auch hier korrekte Sprachvorbilder zu erleben.
Die Vernachlässigung der Muttersprache hat darüber hinaus folgenschwere Konsequenzen für die Identitätsfindung und die soziale Integrationsfähigkeit. „Die Muttersprache hat eine Reihe unverzichtbarer Funktionen: sie bedingt die Entwicklung der Basispersönlichkeit eines Kindes, in ihr erfolgt das Benennen und die Versprachlichung des unmittelbaren Wahrnehmungsfeldes sowie die Orientierung in demselben, sie ermöglicht dem Kind die Aufnahme und die Mitteilung wichtiger Erfahrungen, sie gilt als Träger gesellschaftlichen Wissens und sie ist familien- und gruppeninternes Kommunikationsmittel, um soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, wichtige Geschichten zu überliefern und sich über Wertvorstellungen und Ideensysteme auszutauschen: Selbstbild und Integration hängen also wesentlich von ihr ab.“ (Bönsch, M., 1999, S. 11)